09
April
ein unmoralisches angebot?

ich soll eine belohnung bekommen, weil ich letztes jahr nicht einen tag wegen krankheit gefehlt habe. ich glaube, ich muß das so ausdrücken, weil ich nicht behaupten könnte, mich nicht einen einzigen tag krank gefühlt hätte. das übel kommt selbstverfreilich meistens übers wochenende und dann fängt die arbeitswoche eben irgendwie wieder an, so ist das manchmal.

ich muß ihnen (und denen) (leider) sagen, daß ich die belohnung nicht will, also nicht haben möchte. es widerspricht meinen ethischen grundsätzen.
ich weiß, daß die belohnung eine geste ist, ein zur kenntnis nehmen. und als personalnummer überhaupt zur kenntnis genommen zu werden, na ja. zigtausende sogenannte arbeitnehmer erhalten weder eine geste noch den mindestlohn, noch sonst was.

aber ich halte solche arten von anreizsystemen für grundsätzlich falsch. ich bin einfach nur froh darüber, daß das letzte jahr gesundheitstechnisch- und rechnerisch so gut gelaufen ist und hatte zum beispiel (heuer) in dieser phase keine lust, mich in ein völlig überfülltes wartezimmer zu setzen. wie es mir ging, wußte ich ja selber.

ich bin glücklich, wenn ich mich gut fühle. ich will mich nicht besser fühlen wollen in einem anreizsystem, welches ich für krank halte. und auch dafür kann ich gar nichts.
#
aus den offline-storys: klingt komisch oder nicht:
den manager, der sein gehalt kürzt, weil die qualität "seines produktes" nicht mehr stimmt, würde ich gern mal kennenleren. das (logische) thema: anreizsystem und menschenbild.

mitschuetteln

 
Kranke Anreizsysteme
Ihre hohen moralischen Ansprüche beeindrucken mich, wenngleich ich nicht überrascht sein sollte. Ich weiß zufällig, dass ein Lebensmittelhändler hier bei uns, der nicht allzu klein ist und über Filialen im ganzen Land verfügt, die gleiche Praxis anwendet: Mitarbeiter erhalten Prämien, wenn sie maximal ein paar Tage im Jahr krank sind. Es ist bekannt, dass diese Prämien regelmäßig ausgeschüttet werden und in Anbetracht des Hungerlohnes, der im Lebensmitteleinzelhandel gezahlt wird, stellen diese Belohnungen ein nicht zu vernachlässigendes Zusatzeinkommen dar — böse Menschen würden unken, dass die Prämie nichts anderes ist als eine Variabilisierung von fixem Einkommen und damit eine Betonung der leistungsabhängigen Komponente. Ökonomisch ausgedrückt ist das nichts anderes als ein Anreiz, nicht krank zu werden oder, weil das schwer durchführbar ist, ein Anreiz, trotz Krankheit in die Arbeit zu kommen. Letzteres geschieht dann auch tatsächlich. In der Tat nehmen dann viele Arbeitnehmer gar keinen Krankenstand mehr in Anspruch, wenn es nur irgendwie "geht", weil sie ja nicht wissen können, ob die nächste Krankheit in diesem Jahr sie nicht mit Gewissheit ans Bett fesselt.

In meiner Betrachtung ist das eine widerwärtige, menschenverachtende und zutiefst unsoziale Art, Mitarbeiter zu behandeln, denn es heißt, Firmengewinne auf Kosten der Gesundheit der Arbeitnehmer zu erzielen. Früher hätte man in der Theorie argumentiert, dass rationale Manager eine solche Praxis nicht etablieren würden, weil kranke Mitarbeiter weniger leisten und gesunde Mitarbeiter anstecken, wodurch es zu größeren Ausfällen und damit einhergehend zu Produktivitätsverlusten kommt. Ich bin nicht sicher, ob das zutrifft, wenn sich die Arbeiter abrackern, um ihren Job zu behalten, weil vor der Tür schon zwei Arbeitslose stehen, die den Job annehmen würden.

Ein solches Anreizsystem ist übrigens aus gesundheitsökonomischer Sicht doppelt verwerflich: Menschen mit niedrigerem Bildungsniveau, niedrigerem Einkommen und niedrigerem sozialen Status sind statistisch betrachtet kränker als andere. Wenn diese Menschen dann auch noch weniger Einkommen erzielen (können), eben weil sie kränker sind, erfahren sie einen doppelten Nachteil. Dass eine Gesellschaft solche Praktiken duldet, sagt tatsächlich viel über ihr Menschenbild aus.
 

vor allem beinhaltet dieses menschenbild, daß zum beispiel der sogenannte arbeitnehmer aus der sicht der führungskräfte oder der bedürftige aus der sicht des staates immer anreize braucht. sonst kommt er nicht aus dem knick.
wohingegen, und darauf zielt vor allem mein letzter absatz, die die diese anreizsysteme in die welt oder umsetzen nicht auf die idee kämen, sich selbst irgendeine leistung zu kürzen, weil ziele nicht erreicht werden oder die mißstände zu groß sind oder was auch immer, sich selbst einen anreiz zu schaffen (die ziele zu erreichen, bzw. bessere rahmenbedingungen hierfür zu schaffen oder mißstände zu beheben oder was auch immer), weil das ist nun wahrlich nicht ihre aufgabe. die besteht wohl eher darin, aus den (immer unterstellt unwilligen) underperformern performer zu machen. wir können wohl froh sein, daß diese art von leuten nicht in kindergärten arbeitet, jedenfalls noch nicht.

die seite die sie zurecht ansprechen, ist reine ausbeutung. was sich ganz nebenbei auch mit der menschenwürde nicht vertragen würde. aber würde ist ja ein konjunktiv. der soziale druck ist mittlerweile so hoch, daß wer krank zur arbeit geht, ein held ist: er lässt seine kollegen und sein unternehmen nicht im stich. wer soll ihm sagen: aus diesem umfeld! daß er einen stich hat? aber das, das sprechen sie ja an, ist auch eine frage ob man sich das leisten kann.

dieses system: du warst nicht krank(gemeldet) und dafür belohnen wir dich; ist in jeder art und weise verwerflich, jedem gegenüber. ich habe mir das (nicht krank gewesen zu sein) ja nicht ausgesucht, das ist überhaupt keine leistung (in dieser leistungsgesellschaft). das ist meine grenze in dieser moralisch abgehobenen leistungsgesellschaft. wenn ich die nicht ziehen würde ... es gibt gar nicht so viele möglichkeiten. in meinem fall kann ich mal was "tun", auch wenn es nichts bewirken wird.

 
Ich wüßte ja gern, wie die reagiert haben. Ob ihnen das öfter passiert?
 
die reaktion war, ich würde sagen, gelassen: man muß nichts nehmen, was man nicht möchte.
und eigentlich glaube ich sogar, daß das öfter passiert. was aber nicht bedeutet, unternehmensentscheidungen für oder gegen das eine und andere sanktionssystem zu hinterfragen.
mein bescheidenes fazit: stellte man die sinnhaftigkeit infrage, stellte man sanktionssysteme als solche infrage.
 
Ich glaube, auf Geld -- ohne sichtbaren Ersatz -- zu verzichten, ist die sicherste und schnellste Methode, als ein wenig wunderlich zu gelten. (Und als verrückt, wenn man Sanktionssysteme in Frage stellt.) Aber das sollte Sie keinesfalls beirren.
 
verrückt und wunderlich, damit kann ich leben. (und, manche grundsätze erscheinen einem schon albern. in wesentlich dingen jedoch, sollte man sich ruhig selbst beim wort nehmen.)
kopfschuetteln seit 6047 tagen
update: 2024.04.22, 20:27
blogger-sache
herzlich willkommen!
sie sind nicht eingeloggt. einloggen
menü-sachen
leit(kültür)sache

the revolution will not be televised.
oder.
um es mit hagen rether zu sagen: "Wir haben doch die Wahl. Kannste Sarrazin lesen oder Navid Kermani.
Wir haben immer die Wahl zwischen beidem."

in eigener sache

frau kopfschuetteln

sachen suchen
 
kalendersache
April 2015
Mo
Di
Mi
Do
Fr
Sa
So
 
 
 1 
 2 
 3 
 8 
10
11
12
13
14
18
21
28
 
 
 
 
gute sachen - manchmal auch komplizen

... and the trees, too

einfach einemaria (von wegen einfach!)

herr dhonau

herr gorillaschnitzel

herr prieditis

herr stubenzweig

::phom::

mehr kültür-sachen
erst mal die podcast-kültür

die frage des tages

auf heimatsuche

wöchentlich - lakonisch elegant. der kulturpodcast

fast täglich - der tag

fast täglich - noch ein der tag

die quellen sprechen

ost - ein anleitung (podcast)

32 mal beethoven mit und von igor levit und anselm cybinski

saal 101 - dokumentarhörspiel zum nsu-prozess

rechter terror - vier jahrzehnte rechtsextreme gewalt in deutschland

dann video-kültür

Basislager Demokratie

und natürlich schrift-kültür

die AnStifter

merkur

die gazette

perlentaucher

zenith

glanz und elend

der freitag

agora42

kontext: wochenzeitung

prager frühling - magazin

de.hypotheses.org

slippery slopes

gesagte sachen
/ gerne, das freut... kopfschuetteln / schlechte laune... kuena / was sich eigentlich... kopfschuetteln / Das versteht sich... damals / kontinuierliches... kopfschuetteln / Was für eine... damals / der titel fremd... kopfschuetteln / Schwieriges Thema,... c. fabry
schriftsache
nebensache


xml version of this page

made with antville