09
Oktober
ein zitat zum neunten oktober.
"diese balance zwischen anpassung und widerstand, zwischen mut und verrat ist schwer zu erklären. schon diese worte sind wohl viel zu groß, um die kleinen bewegungen zu beschreiben, um die es meistens nur ging. es war eine grauzone der möglichkeiten, in der man mal in die eine richtung und mal in die andere richtung laufen konnte, in der es keinen richtigen und keinen falschen weg gab, sondern im besten fall das gefühl, einen erträglichen kompromiss gefunden zu haben. wer in dieser grauzone lebte, musste immer neu reagieren, immer neu abwägen. der war kein verräter und auch kein held, der konnte nur versuchen, so nahe wie möglich bei sich selbst zu sein." (maxim leo; haltet euer herz bereit)

ich bin ja ganz hin und weg vom dem büchlein, daß ich zwischendurch, aber keineswegs nebenbei lese. (da sortiert die weitaus bessere hälfte meine bücher und seine versteck(el)t er in der schublade.)

noch mehr zum hören.
(und eine interessante familiengeschichte: les leo ou l'esprit de résistance; und ein dokumentarfilm über den großvater gerhard leo.)

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erinnerungen
an einem tag im november 1982 kam unsere schuldirektorin frau reichenbach in den umkleideraum gestürzt. wir waren geade mit dem sportunterricht ferig. frau reichenbach hatte tränen in den augen und sagte: "es ist etwas ganz schlimmes passiert, der sowjetische generalsekretär leonid breschnew ist tot."
komisch (eigentlich nicht).
(ich bin ja nur unwesentlich jünger als herr leo.)

den rest des tages robbten wir durch den wald, lernten ... uns vor einem atompilz zu schützen. das ging ganz einfach: man musste sich nur lang hinwerfen und mit einer zeltplane bedecken, dann konnte eigentlich nichts passieren.
und, sagt die weitaus bessere hälfte: sich mit den füßen, sozusagen, gegen den atompilz legen.
und, sag ich, daß weiß ich noch: nicht hinsehen.
 
die geschichte vom urgroßvater dagobert lubinski.
kpo, entweder habe ich das komplett vergessen oder, sogar das ist möglich, das wurde im sogenannten geschichtsunterricht ausgeblendet. ich glaube, das letztere ist wahrscheinlicher.
man hat ja auch alles was mit stalin zu tun hatte ausgelassen; es gab keine „säuberungsaktionen“ und und und. das gab es alles nicht. die neugier auf die geschichte kommt erst jetzt wieder. vielleicht war ich lange zeit übersatt von damals, von den geschichten der kpd und spd, und nicht zu vergessen deren vereinigung und dem ganzen falschen pathos – unsere geschichtslehrerin nahm um die vereinigung zu demonstrieren, beide arme weit auseinander um, sie dann zusammenzuführen und ihre beiden hände, vereinigt(!) in die höhe zu strecken, unter dem ging es nicht. man hat uns nur das „gelehrt“, was in die deutung der geschichte passte. man hat die geschichtsschreibung und geschichtsbücher gefälscht und andere quellen gab es nicht, nicht für jeden.

die professorin, die anne betreut, besorgt die genehmigung, und an einem winternachmittag des jahres 1979 darf anne zum ersten mal den „giftraum“ betreten, in dem die gefährlichen bücher katalogisiert sind. zu ihrer überraschung stammen die verbotenen werke nicht von bürgerlichen historikern, sondern ausnahmslos von linken abweichlern. die gesamte trotzkistische literatur ist hier versammelt, dazu die werke der von der partei als „euro-kommunisten“, als „versöhnler“ und „revisionisten“ verschrienen theoretiker der arbeiterbewegung. es sind die bücher, vor denen die partei am meisten angst hat, die sie am vehementesten bekämpft.

die verfemten theoretiker, die ihre gedanken oft mit dem leben bezahlen mußten, erschienen ihr viel ehrlicher und mutiger als die ideologen des real existierenden sozialismus ... mit jedem buch, das sie liest, wächst ihre überzeugung , dass die ddr den sozialismus eigentlich verhindert, dass sie ihn verrät und pervertiert. (immer noch: maxim leo; haltet eure herzen bereit)


(als nächstes lese ich „briefe zwischen kommen und gehen“ von annette leo.)
 
*haltet euer herz bereit
zum oktober 1989 schreibt maxim leo:
es ist eine seltsame stimmung in der stadt, eine spannung wie vor einem großen aufbruch. ich habe das gefühl, dass uns doch eigentlich gar nichts mehr passieren kann, wenn wir so viele sind. aber so klar ist das zu diesem zeitpunkt noch nicht.*

eine revolution ist eben kein spaziergang.

aus dem epilog:
am montag nach dem mauerfall bin ich zu einem polizeirevier in berlin kreuzberg gegangen und habe einen west-pass beantragt. es war eine vorsichtsmaßnahme, ich wollte etwas in der hand aben, falls die mauer doch wieder zugeht.
...
ein paar wochen später bin ich mit meinem west-pass in den osten eingereist. das war eine seltsame sache, weil ich davon immer geträumt hatte und jetzt doch alles ganz anders war. die ddr war nur noch scheinbar da, und jeder ostler konnte nun auch ein westler sein. hinzu kam, dass mir die westler schon anfingen, auf die nerven zu gehen. sie redeten von der ddr, als sei das ein choleragebiet. es hieß, wir seien von der diktatur verdorben, charakterlich schwachund schlecht gebildet ... aber es war auf einmal da, dieses gefühl, das ich vorher nicht gekannt habe. dieses "wir", das mir so schwer über die lippen gekommen war. ich glaube, ich habe mich der ddr nie so nahe gefühlt wie nach ihrem untergang.*


es ist nicht so, daß man die ddr vermißt, im gegenteil. es ist nur, daß sie einem so vertraut ist, beziehungsweise war. manchmal begreift man erst viel später, welches glück man hatte.

1993 schreibt wolf leo einen kurzen text zu einer installation - "was kommt", die auf dem kirchentag in potsdam gezeigt wurde:
der fortschrittsglaube ist erschüttert, zu-kunft im wortsinn, die frage nach der wachstumsrate in verbindung mit dem sinn des lebens und den ökologischen katastrophen produziert die titanic-mentalität. der kampf um die nische im rettungsboot läuft. angst vor dem kalten wasser.*

---

dieses wunderbare buch sollte pflichtlektüre im geschichtsunterricht sein. und meine mädels bekommen das auf alle fälle zum lesen.

prädikat: unverzichtbar.
 
ich glaube, das habe ich gar nicht verlinkt. maxim leo liest, natürlich aus "haltet euer herz bereit".
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update: 2024.11.15, 19:57
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